Pedro Almodóvars "Sprich mit ihr": Wundertüte der Zärtlichkeiten (2024)

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Benigno (Javier Cámara) liebt Alicia (Leonor Watling). Schon seit vier Jahren sind sie zusammen, Tag und Nacht ­ und nichts spricht dagegen, dass beide bis an ihr Lebensende unzertrennlich bleiben. Denn die schöne Ballettschülerin liegt seit einem Autounfall im Koma. Und Benigno ist ihr Krankenpfleger, der sich so hingebungsvoll um Alicia kümmert, wie es der perfekteste Ehemann nicht könnte. Er wäscht, massiert und manikürt sie, schneidet ihre Haare und spielt ihr klassische Musik vor. Vor allem spricht er unentwegt zu ihr, erzählt seine Erlebnisse und von den Geschehnissen in der Welt. Der Arzt hält das zwar für völlig sinnlos, doch das ficht Benigno nicht an. "Wer weiß", sagt er, "man muss zuversichtlich bleiben."

Niemand wirft sich dem Leben so hemmungslos entgegen wie der Spanier Pedro Almodóvar, ein Alltagsphantast und bizarrer Schnulzenerzähler, dessen Filme einen seit zwei Jahrzehnten immer wieder überraschen. Und er hat schon mehr als ein Wunder gebraucht, um seine ganz unglaublichen, tragikomischen, ergreifenden Geschichten über Begierden, heiligen Wahnsinn, blühende Geheimnisse und Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs durch Labyrinthe der Leidenschaften zu tragen. An ein Wunder musste man auch glauben, als Almodóvar vor zwei Jahren für "Alles über meine Mutter" nicht nur den Oscar für den besten ausländischen Film, sondern darüber hinaus nahezu jeden wichtigen Filmpreis Europas bekommen hat.

Dieser Segen wird sich kaum wiederholen, da hilft auch kein Gebet, obwohl ihm mit "Sprich mit ihr" nun an Komplexität und Reife sein schönstes Werk gelungen ist. Einer Wundertüte der Zärtlichkeit, psychologischenSensibilität und narrativen Kunst gleicht sein Melodram, in dem aus erstickendem Herzschmerz und bodenloser Obsession ein Trost erwächst, der nicht nur Marco (Darío Grandinetti) zum Weinen bringt. Der sieht am Anfangdes Films in Madrid eine beeindruckende Ballett-Aufführung, bei der Pina Bausch in einem Nachthemd und mit stummen Seufzern zwischen den Stühlen und Tischen eines leeren Lokals tanzt und zu Boden sinkt. Eine Reihe schräg hinter ihm sitzt Benigno und bemerkt seine Tränen.

Zu ihm führt den rastlosen Schriftsteller und freiberuflichen Journalisten aus Argentinien jedoch erst das Schicksal der Stierkämpferin Lydia (Rosario Flores). Er will ein Porträt über sie schreiben und verliebt sich in diedrahtige, stolze Frau, die noch unter der Trennung von dem Matador El Nino (Adolfo Fernández) leidet. Drei Monate nur sind sie ein Paar. Dann wird Lydia in der Arena schwer verletzt und bewusstlos in dieselbe Klinikeingeliefert, in der Alicia liegt. Bei seinen Krankenbesuchen trifft er auf Benigno, der ihn aufmuntert und ihm rät, mit Lydia zu sprechen: "Man muss Frauen Aufmerksamkeit schenken." Doch Marco verharrt schweigend an ihrem Bett, kann sie nicht mal berühren und verbringt bald mehr Zeit bei dem Sonderling, der mit entwaffnender Naivität über sich und seine Liebe zu Alicia plaudert.

In elliptischen Rückblenden, in denen leichthändig immer wieder mehrere Zeitebenen verknüpft werden, blättert Almodóvar dann die unmittelbare Vergangenheit und tiefen Traumata seiner Figuren auf. Der mollige Benigno verliebt sich in Alicia am Todestag seiner Mutter, die er 20 Jahre lang zu Hause gepflegt hat, als er erstmals wieder die Vorhänge der Wohnung öffnet und auf die Ballettschule von Katerina Bilova (Geraldine Chaplin) gegenüber blickt. Um ihr nahe zu kommen, wird das letztlich lebensuntüchtige Muttersöhnchen sogar Patient bei ihrem Vater, einem Psychiater. Der akzeptiert Benigno später als Betreuer seiner Tochter, weil er ihn für schwul hält.

Bedeutungsschwanger folgt nun mit dem Titel "Der schwindende Liebhaber" ein Stummfilm, auch weil Alicia für das Genre geschwärmt hat. Darin trinkt ein Mann ein Elixier, das seine große Liebe gebraut hat. Er will ihr imponieren, indem er es trinkt, schrumpft aber bis auf Daumengröße. Eines nachts krabbelt er über ihren Körper ­ und verschwindet schließlich in ihrer Vagina. Die expressionistische, frivole Sequenz ist ein einsamer Höhepunkt.

Marco wiederum erzählt Lydia kurz vor ihrem letzten Kampf von seiner unglücklichen Liebe zu einer minderjährigen Drogensüchtigen, die er für überwunden glaubt. Lydia indes kommt nicht mehr dazu, ihm ihre wieder entflammte Beziehung zu El Nino zu gestehen. Je länger der Film dauert, je mehr Details sich offenbaren, desto sichtbarer wird ein grandioses Geflecht aus Doppelspiegelungen, schicksalhaften Zufällen undSeelenverwandtschaften. Die eine kann nichts mehr sagen, die andere nicht widersprechen. Der einevermag nicht zu reden und also zu leben, der andere redet und lebt für jemand anderes. Verblüffend und ergreifend findet Almodóvar von metaphysischen Momenten, Bibelmotiven wie der unbefleckten Empfängnis undder Wiedergeburt, zwischen unüberbrückbarer Distanz und grenzenloser Intimität zu einer wahrhaftigen Romantik über das Unaussprechliche, verzweifelte Sehnsucht, die Vergeblichkeit und zugleich Unsterblichkeit der Liebe. "Aus dem Irdischen entsteht das Ätherische", schwadroniert die Ballettmeisterin Bilova über ihr Projekt "Schützengräben", das vom Ersten Weltkrieg handeln soll.

Das einst Groteske, Burleske und Makabre in Almodóvars früheren Filmen ist in "Sprich mit ihr" dennoch endgültig einem sanften, indes nicht weniger kauzigem Humor gewichen, den vor allem Javier Cámera als Benigno hinreizend vermittelt. Und herzzerreißend ist ein Liederabend mit dem Brasilianer Caetano Veloso, der "Cucurrucucú Paloma" singt. "Steine wissen nicht, was Liebe ist", heißt es darin. Wer da nicht weint, ist tot.

"Sprich mit ihr ­ Hable con ella", E 2002. Regie und Drehbuch: Pedro Almódovar; Darsteller: Javier Cámera, Darío Grandinetti, Leonor Watling, Rosario Flores, Geraldine Chaplin; Produktion: ElDeseo, A3 TV, Via Digital; Verleih: Tobis StudioCanal; Länge: 116 Minuten; Start: 8. August 2002.

Pedro Almodóvars "Sprich mit ihr": Wundertüte der Zärtlichkeiten (2024)
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Author: Neely Ledner

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